Markus Kurz - Radio Dreyeckland Freiburg - Jazzredaktion
George Gershwin - 100 Special
George Gershwin - The Piano Rolls (Volume 1)
(Elektra Nonesuch 7559-79287-2 - WEA)
George & Ira Gershwin - Girl Crazy
(Elektra Nonesuch 7559-79250-2 - WEA)
Vienna Art Orchestra - American Rhapsody
(RCA Victor 09026 63227 2 - BMG)
Larry Adler - The Glory of Gershwin
(Mercury 522 727-2 - Polygram)
George Gershwin – 100 years of Great American Song Writing. Aber im Grunde waren es nur knapp 39 Jahre, denn – geboren am 26. September 1898 in Brooklyn – starb George Gershwin nach einem rasanten Leben in der Glanzzeit der 20er und der anschließenden Wirtschaftsdepression der 30er bereits in jungen Jahren am 11. Juli 1937 in Hollywood.
Nicht nur die Great Standards sondern auch einige der unbekannteren Melodien - wenn man das überhaupt von irgendeinem der Gershwin-Songs behaupten kann - sind Gegenstand dieses Gershwin-Specials, bspw. Sam and Delilah, The Babbit and the Bromide oder etwa Cactus Time in Arizona.
Zu Anfang stehen die Aufnahmen der Piano-Rolls, einer frühen Tontechnik, die vor allem in der Zeit ab etwa der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Aufschwungs der Schallplatte Ende der 20er Jahre einen Massenmarkt bediente. Speziell präparierte Tasteninstrumente konnten mit diesen Matrizen selbständig die eingestanzten Töne reproduzieren. Viele der Einspielungen Gershwins aus dieser Zeit sind erhalten. 1993 und 1995 erschienen 2 CDs auf dem Nonesuch-Label, bei denen diese Aufnahmen mittels einer neuen Technik von den Original-Pianorollen der 20er mittels eines Yamaha-Disklaviers auf einen Konzertflügel transferiert wurden. Seltene, nie zuvor auf Platten aufgenommene Stücke sind zu hören, neben Gershwins wohl bekanntestem Werk, solo gespielt, der Rhapsody in Blue. Das älteste Stück When you want em, you can’t get em, when you’ve got em, you don’t want em stammt aus dem Jahr 1916.
Zwischen 1921 und 1933 arbeiteten die Gershwins an insgesamt fast 20 Musical Comedies auf den Bühnen New Yorks und Londons. Nur eine Handvoll blieb davon in ihrer ursprünglichen Form erhalten. Wie viele ihrer Zeitgenossen dachten sie kaum an die Dauer ihrer musikalischen Werke, es war sozusagen alles nur für den Augenblick gemacht, sobald die jeweilige Show einmal am laufen war, wurde die nächste in Angriff genommen, es wurde im wahrsten Sinne des Wortes das tägliche Brot damit verdient. Niemand betrachtete die Musical Comedies als dauerhafte Musik und konnte sich vorstellen, daß diese Musik in 10 oder gar 50 Jahren noch gespielt werden würde.
Auf diese schnelle Art entstanden viele der großen Gershwin-Songs, insgesamt über 1000 Kompositionen. Wenige dachten folglich daran, nach Schluß der Shows die Aufnahmematerialen und Dokumente aufzubewahren. Das ist wohl auch der Hauptgrund warum bis in die heutige Zeit die Musicals von Gershwin kaum in Gesamtaufnahmen vorliegen, mit Ausnahme seines Hauptwerks, der später im Jahre 1935 entstandenen Oper Porgy and Bess.
Erst nach mühevoller Rekonstruktion und Detailarbeit wurden Anfang der 90er-Jahre nacheinander einige der Gershwin-Musicals der 20er und 30er-Jahre erstmals überhaupt in Komplettfassung auf Tonträger auf dem Nonesuch-Label veröffentlicht: die Musicals Lady be good, Girl Crazy, Strike up the Band, Oh. Kay! und Pardon my English. Und die in heutigen Digitalstandards aufgenommenen und mit ausführlichen Begleitheften, Texten und Fotodokumenten ausgestatteten CD-Boxen machen die faszinierende Atmosphäre zwischen der Boom-Time der 20er und der Depression der 30er wieder lebendig in heutigen Wohnzimmern. Ich jedenfalls werde mitunter wie magisch von diesen Klängen angezogen und höre sie mir immer wieder an.
Das Musical Girl Crazy bspw., 1930 entstanden und wohl eines der bekannteren Musicals von Gershwin strotzt nur so von heute Standards genannten Melodien, z.B. Embraceable You, I got Rhythm, Bidin my Time oder But not for me.
Vor allem in der Jazzwelt der kommenden Jahrzehnte wurden und werden die Songs von George und Ira Gershwin bis heute immer wieder neu interpretiert, und trotz ihres unglaublichen Reichtums an ausgefeilten Harmonien und Akkorden bieten sie den interpretierenden Künstlern doch viel Freiraum für ihre eigenen Interpretationen. Dies wird deutlich, wenn man sich einmal die Liste der folgenden Musiker anschaut: Ella, Art Tatum, Bill Evans, Chick Corea, Charles Mingus, Glenn Miller, Sun Ra, Count Basie, Miles, Clifford Brown, Charlie Bird Parker, Joe Lovano, Eric Dolphy, Janis Joplin, Louis Armstrong, Sting, Frank Sinatra, Tom Jobim, Billie Holiday und so weiter. Sie alle mochten und spielten die Musik George Gershwins – einer der, wenn nicht gar der größte amerikanische Komponist des Golden Age of American Song, das gleichzeitig auch das Golden Age of Jazz war, die Zeit in der die Jazzmusik ihre bis dato größte Popularität erreichte.
Als Pianist lehnte sich Gershwin an die klassischen Interpretationen, wie man unschwer an seiner eigenen Spielweise bspw. auf den Piano Rolls erkennen kann. Als Komponist dachte er jedoch eher in den Kategorien eines Jazzmusikers und schrieb große Mengen an Songmaterial, das von der Konzeption her in die Zukunft gerichtet war und die Jazzmusiker sicher auch die nächsten 100 Jahre herausfordern wird. Vielleicht könnte er gar als der erste Crossover-Musiker des Jahrhunderts bezeichnet werden, hat er doch mit feinem Gespür auf bis dato unvergleichliche Art und Weise afro-amerikanische Musik mit Elementen der europäischen Konzertmusik verbunden.
Verwirrende Melodien, ein komplexes Geflecht aus Polyrhythmen und ausgefeilten Harmonien konnte er auch in Form eines klassischen Konzerts bringen. In Rhapsody in Blue oder dem ersten Satz des Concerto in F etwa nimmt er als Komponist viele der wichtigen Entwicklungen vorweg, für deren Ausarbeitung der Jazz in den folgenden Dekaden noch kämpfen mußte.
Vienna Art Orchestra - American Rhapsody
Gegründet vom Schweizer Pianisten, Arrangeur und Komponisten Mathias Rüegg, ist das Vienna Art Orchestra seit 1977 eine ständige Größe im Jazz. Von einem kleinen Ensemble wuchs es damals schnell auf ein 16-Mann Orchester, das sich mit seiner Musik auf eine anziehende, respektlose Weise den letzten 90 Jahren improvisierter Musik widmet: von Scott Joplin und Jelly Roll Morton über Duke, Mingus und Dolphy bis zu Ornette Coleman und Anthony Braxton.
Jetzt wagt sich Rüegg mit seinen Mannen erstmals an das Thema Gershwin und das gleich mit einer Tribute-CD, was zwar meist bekannte Titel bringt, aber erfreulicherweise z.T. in ungewohnter Instrumentierung, bspw. spielt der Gitarrist Wolfgang Muthspiel den Solopart auf Rhapsody in Blue und Franck Tortiller an Vibraphon bzw. Marimba auf Concerto in F, den beiden längeren Stücken dieser Produktion. Weitere namhafte Solisten konnte Mathias Rüegg für das Projekt gewinnen: Ray Anderson (voc, tb), Joe Lovano (ts), Dee Dee Bridgewater (voc), T.S.Monk (voc), Monica Zetterlund (voc) und Shirley Horn (voc, p).
Besondere Anspieltips sind für mich das weniger bekannte, kleine Stück The Babbit and the Bromide, auf dem der Drummer T.S.Monk, Sproß von Thelonious, einen hervorragenden Vokalpart hinlegt, sowie They can’t take that away from me mit Dee Dee Bridgewater.
Das in S/W gehaltene Booklet zeigt ganz abgestimmt auf den musikalischen Inhalt die Skyline von New York in der Boom-Zeit und davor einen der großen Transatlantik-Dampfer der damaligen Ära.
Larry Adler - The Glory of Gershwin
Anlaß für diese CD ist nicht der 100. Geburtstag von Gershwin, denn sie ist bereits 1994 entstanden. Der Harmonica-Spieler Larry Adler hat sich zu seinem 80. Geburtstag einen Traum erfüllt indem er seine Vorliebe zur Musik der Gershwins in ein bemerkenswertes Projekt umgesetzt hat. Mit dem Beatles-Produzenten George Martin (!) zusammen hat er bekannte, meist im Bereich der Pop-Musik erfolgreiche Künstler für diese Aufnahmen versammelt, wobei George Martin, Michael Gibbs und Graham Preskett die entsprechenden Arrangements der Gershwin-Songs für die jeweiligen Interpreten maßgeschneidert haben. Das besondere daran: jeder Künstler durfte seinen Gershwin-Titel selbst auswählen. Bei den 18 Titeln kommt aber nur eine Doppelbelegung vor - und welcher andere Titel als Summertime könnte das wohl sein? Und die Interpretationen von Peter Gabriel und Courtney Pine könnten denn auch kaum unterschiedlicher sein. Als weitere namhafte Gershwin-Fans aus der Pop-Musik zeigen sich u.a. Sting, Elton John, Carly Simon, Elvis Costello und Meat Loaf.
Naturgemäß kann bei einer solch heterogenen Produktion nicht jeder Titel eine Top-Interpretation sein, der Reiz ist eben das Neue, die Verbindung zur (heutigen) populären Musik, Gershwin selbst hat ja immer zumindest mit einem Bein auf dem Boden der Popularmusik gestanden. Die für mich herausragenden Interpretationen sind My Man’s gone now von Sinead O’Connor und Summertime von Courtney Pine. Larry Adler setzt seine instrumentalen Akzente meist sehr dezent und agiert überwiegend aus dem Hintergrund, ist aber trotzdem immer präsent.
Die Entstehung dieses Projektes ist übrigens auch im Rahmen einer Video-Dokumentation festgehalten, die mich überhaupt erst auf diese Musik aufmerksam gemacht hat. Darin erläutern die einzelnen Künstler ihre Verbindung zur Musik Gershwins und warum sie gerade diesen, ihren Gershwin-Song, für diese CD ausgewählt haben.
Vorgestellte Titel:
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© markus kurz 98.10.04